Drei Jahre intensive Projektarbeit im Rahmen von „KI für ein gutes Altern“ sowie die vielfältigen Impulse der bisherigen beiden Ideenwerkstätten bildeten die Grundlage für die Veranstaltung „KI verstehen – mitreden – mitgestalten“ am 27. Oktober im Deutschen Museum Bonn. Aus den Diskussionen dieser Vorjahre hat sich ein Gedanke zunehmend verdichtet: Ältere Menschen brauchen nicht nur Raum, um KI kennenzulernen und auszuprobieren, sondern sie sollen und wollen aktiv an ihrer Entwicklung beteiligt sein.
Aus diesen Erfahrungen ist die Überlegung eines neuen Rollenmodells entstanden: die Senior-KI-Botschafterinnen und -Botschafter. Dabei handelt es sich nicht um ein fertiges Konzept, sondern um einen Entwicklungsimpuls, der zugleich ein positives, kompetenzorientiertes Alters- und Technikbild stärkt. Unter dem Botschafter-Begriff verstehen wir technikaffine ältere Menschen, die als Brückenbauer zwischen Forschung, Entwicklung und der breiten älteren Bevölkerung dienen: als Personen, die wichtiges Erfahrungswissen und Resilienz in Entwicklungsprozesse einbringen, Perspektiven und Bedarfe Älterer sichtbar machen und somit sozial robustere Produkte und KI-Anwendungen ermöglichen, von denen wir alle profitieren können.
Stellvertretend für grundlegende Fragen partizipativer Technikentwicklung wurde anhand dieses Rollenbildes überlegt, diskutiert, konzipiert und geplant, wie sich Mitgestaltung Älterer künftig sinnvoll strukturieren lässt. Damit leitete das Konzept der Senior-KI-Botschafterinnen und -Botschafter über zu einem Tag voller Impulse: einer Keynote, die die Bedeutung der Erfahrung Älterer für die Zukunft agentischer KI unterstrich; praxisnahe Fachbeiträge aus unterschiedlichen Disziplinen; eine gemeinsame Erkundung der KI-Ausstellung des Deutschen Museums in Bonn; und eine Podiumsdiskussion, die das Rollenmodell als Konzept weiter schärfte – als Orientierungspunkt für zukünftige Kooperationen, gemeinsame Projektentwicklungen und die Verstetigung von Beteiligungsstrukturen.



Keynote: Agentische KI menschzentriert gestalten
Dr. Stefan T. Kamin, stellv. Leiter des Forschungsbereiches „Human-centered Innovation“ beim Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen IIS, eröffnete die Veranstaltung mit einem Ausblick auf die Entwicklung agentischer KI-Systeme, also intelligenter, handlungsfähiger Systeme, die zunehmend selbstständig Entscheidungen treffen. Er machte deutlich:
- Verfolgen wir aktuelle Trendlinien werden mittel- bis langfristig Routineaufgaben zunehmend automatisiert und menschliche Aufgaben liegen künftig im Entscheiden, Delegieren sowie in kreativer Neuschöpfung.
- Die Erfahrungen älterer Menschen sind entscheidend, um KI verantwortungsvoll zu gestalten – unter anderem, um
- … bei der zunehmenden Integration von KI-Systemen in unseren Alltag Vorurteile und verzerrte Altersbilder zu vermeiden. Viele KI-Systeme von Entscheidungs- und Selektionsprozessen bis hin zu generativen und agentischen Anwendungen greifen auf Daten zurück, die stereotype Vorstellungen über das Alter enthalten. Werden solche Verzerrungen nicht erkannt und korrigiert, entstehen Technologien, die an den Bedürfnissen vieler Menschen vorbeigehen. Die Lebenserfahrung älterer Menschen ist daher unverzichtbar, um diese Fehler sichtbar zu machen und Entwicklungen so zu begleiten, dass Produkte und Anwendungen allen gleichermaßen zugutekommen.
- … technische Abhängigkeiten und Kompetenzverlust zu vermeiden. Herr Kamin zeigte anhand aktueller Studien, dass die zunehmende Nutzung von KI-Systemen, etwa ChatGPT im universitären Kontext, zu individuellen Kompetenzverlusten führen kann. Erste Untersuchungen deuten sogar darauf hin, dass eine starke Abhängigkeit von solchen Anwendungen langfristig die kognitive Leistungsfähigkeit beeinflussen kann. Hier können ältere Menschen wertvolle Hinweise geben, wie digitale Unterstützung gestaltet werden sollte, ohne die eigene Problemlösefähigkeit zu untergraben.
- … Weisheit mit Innovation zu verbinden. KI kann Wissen verdichten, zusammenfassen und generalisieren, ihr fehlt jedoch die pragmatische Einordnung. Erfahrung und Weisheit als sogenanntes implizites Wissen lassen sich nicht objektivieren oder maschinell nachbilden. Gerade in der KI-Forschung und der Entwicklung neuer Anwendungen wird daher die Fähigkeit Älterer gebraucht, langfristige Folgen abzuschätzen, ethische Fragen einzubringen und kritische Reflexion gegenüber reiner technischer Machbarkeit zu stärken.
Fachimpulse: KI praxisnah und partizipativ
Auf die tonangebende Keynote folgten drei Fachimpulse aus verschiedenen Fachdisziplinen und Teilbereichen, die aus ihrer jeweils eigenen Perspektive Pfade aufzeigten, wie sich ältere Menschen in Forschung und Entwicklung neuer Anwendungen einbringen können.
Fachimpuls I: Vom Kartenspiel zur KI-Mitgestaltung
Damian Paderta, Digitalberater unter dem Label NOZILLA sowie Mitbegründer der Bürgerbeteiligungsinitiative Offene Kommunen.NRW, erläuterte anhand eines praxisnahen KI-Toolkits, wie spielerische Ansätze die Zusammenarbeit zwischen Generationen fördern und KI verständlich machen können. Die spielerische Beteiligung von Nutzenden oder Betroffenen erzeugt nicht nur sozial robustere Anwendungen und stärkt die Akzeptanz, sondern trägt auch zu einem gemeinsamen Verständnis von Technologien sowie zu einem besseren Einblick in gegenseitige – und manchmal widersprüchliche – Perspektiven bei. Der Impuls machte zudem deutlich, dass technische Machbarkeit allein keine ausreichende Handlungsleitlinie ist. Nur weil etwas technisch möglich ist, bedeutet das nicht, dass es auch umgesetzt werden sollte.
Das vorgestellte KI-Toolkit ist kostenlos und kann hier heruntergeladen werden
Fachimpuls II: Altersbilder im Fokus – Partizipation im Projekt KImAge
Prof. Verena Klusmann-Weißkopf von der Hochschule Furtwangen stellte das Projekt KImAge vor, in dem Altersbilder aus dem Alltag fotografisch erfasst und mithilfe von KI analysiert werden. Ziel ist es, die gesellschaftliche Wahrnehmung des Alterns sichtbar zu machen und neue Einsichten zu gewinnen. Der Fachimpuls verdeutlichte, dass die Partizipation älterer Menschen entscheidend ist, um realistische Altersbilder abzubilden und den Umgang mit KI generationenübergreifend zu reflektieren. Zudem betonte sie, dass das Bild vom Leben im Alter einen erheblichen Einfluss auf die Lebenserwartung eines Menschen hat. Langfristig müsse es daher gelingen, die Diversität des Alters auch in die Trainingsdaten von KI-Modellen einzubeziehen.
Weitere Informationen zum Projekt KImAge finden Sie hier
Fachimpuls III: KI verändert alles – und alle
Sabrina Schreiner und Patrick Meller des Fraunhofer UMSICHT gaben Einblicke in die interdisziplinäre Forschung, die technologische Innovation mit sozialer Verantwortung verbindet. Sie zeigten, wie KI Arbeits- und Lebenswelten verändert und zugleich das Miteinander der Generationen beeinflusst. Besonders hervorgehoben wurde, dass bei der Einführung von KI-Anwendungen in der eigenen Organisation nutzerzentrierte Ansätze und praxisnahe Trainings entscheidend sind, um technologische Entwicklungen nachhaltig und inklusiv zu gestalten. Lern- und Austauschformate zum Thema KI müssen regelmäßig für alle Altersgruppen angeboten werden, denn Skepsis und Unsicherheit sind keine Frage des Alters.



Erleben und Vernetzen: Führung & Diskussion
Ein besonderes Highlight für alle Teilnehmende war die interaktive Führung durch die KI-Ausstellung im Deutschen Museum Bonn. Die Teilnehmenden konnten KI-Anwendungen hautnah erleben, ausprobieren und direkt erfahren, wie Künstliche Intelligenz derzeit unseren Alltag verändert. Die anschaulichen Demonstrationen und praxisnahen Beispiele machten die Technologien greifbar und regten zu lebhaften Gesprächen über Chancen, Herausforderungen und die Rolle älterer Menschen in der digitalen Welt an.

Podiumsdiskussion: Rollenmodell Senior-KI-Botschafter
Den Abschluss eines inspirierenden Tages bildete die gemeinsame Podiumsdiskussion. Anhand des eingangs skizzierten Rollenmodells diskutierten die Teilnehmenden, welche Aufgaben und Kompetenzen Senior-KI-Botschafter benötigen und welche Rahmenbedingungen Entscheidungen auf Augenhöhe ermöglichen. Dabei wurde deutlich, dass Vielfalt in der Beteiligung zentral ist, um KI-Projekte realitätsnah und generationenübergreifend zu gestalten.
Pfade für die Zukunft: Was wir aus den Impulsen des Tages mitnehmen
Aus den vielfältigen Beiträgen der Vorträge und Diskussionen ergeben sich konkrete, für die kommenden Jahre richtungsweisende Handlungsfelder:
- Ein realistisches und vielfältiges Bild des Alterns stärken: Praxisprojekte müssen aktiv zeigen, dass Altern ein diverser, individueller Prozess ist. Beispielsweise unterstützen Austausch und Beteiligung an Initiativen wie dem vorgestellten Projekt KImAge eine differenzierte Wahrnehmung des Alters und wirken stereotypen Vorstellungen entgegen. Das bedeutet jedoch auch, dass ein Konzept wie das der „Senior-KI-Botschafter“ nicht allein von technikaffinen „Best-Agern“ ausgehen kann. Wer dem negativen Stereotyp der technikaversen und digital wenig kompetenten Älteren ein rein positives Altersbild entgegenstellt, produziert ebenfalls Stereotype und wird der Vielfalt des Alters nicht gerecht.
- Wir alle sind gefragt: Die Diskussion zeigte deutlich, dass gute Technologieentwicklung ohne die aktive Stimme älterer Menschen nicht funktionieren kann. Viele Bedürfnisse, Irritationen oder alltägliche Hürden werden erst sichtbar, wenn sie von Nutzenden oder Betroffenen selbst artikuliert werden. Deshalb braucht es Räume und Beteiligungspfade, in denen ältere Menschen ihre Erwartungen formulieren, Kritik äußern und Unbehagen gegenüber bestimmten Anwendungen offen ansprechen können. Gute Produkt- und Anwendungsentwicklung schafft solche Beteiligungspfade von vornherein.
- Sich nicht vor KI verschließen: KI wird bleiben. Entscheidend ist, dass ältere Menschen Zugang, geschützte Räume und Möglichkeiten zum Ausprobieren erhalten. Eine offene Lernkultur ist der Schlüssel dafür, souverän und selbstbestimmt mit KI umzugehen und bildet die Grundlage dafür, sich überhaupt in den gesellschaftlichen Diskurs sowie in Fragen von Forschung und Entwicklung einzubringen.
- Menschenzentrierte KI als Standortvorteil nutzen : Gemeinsame, systemübergreifende Pilotprojekte müssen demonstrieren, dass sich Investitionen in menschenzentrierte KI lohnen – für Unternehmen, für Nutzende und für die Gesellschaft als Ganzes. Gerade für Unternehmen kann sich die aktive Beteiligung Älterer an Entwicklungsprozessen als ein entscheidender Wettbewerbsvorteil erweisen, insbesondere in einem Markt, in dem altersgerechte Technologien zunehmend gefragt sind.
- Partizipation verbindlich verankern: Ein zentrales Fazit war der Wunsch, Partizipation älterer Menschen nicht als freiwilliges Zusatzangebot, sondern als festen Bestandteil guter Entwicklungspraxis zu etablieren. Es genügt nicht, ältere Menschen punktuell zu befragen; sie sollten in allen Phasen mitgestalten – von der Ideenfindung über das Design bis hin zur Bewertung der Ergebnisse. Dafür braucht es verbindliche Strukturen, wie sie etwa durch einen „Alters-Check“ entstehen könnten: ein vor der Produktentstehung verpflichtendes Prüfverfahren, das systematisch erfasst, wie neue Technologien, Produkte oder gesetzliche Regelungen ältere Menschen betreffen. Ein solcher Mechanismus könnte analog zum Jugend-Check dazu beitragen, dass die Perspektive Älterer nicht erst im Nachhinein berücksichtigt wird, sondern von Anfang an.
Fazit
Die Veranstaltung machte deutlich: Der Weg zu menschenzentrierter, altersgerechter KI ist kein Selbstläufer. Er braucht Lernräume, Austauschformate, verbindliche Beteiligungsverfahren und den Mut, neue Rollenbilder zu etablieren. Zugleich wurde sichtbar, dass bereits erste Impulse bestehen, auf denen sich aufbauen lässt – in Projekten wie „KI für ein gutes Altern“, in der zunehmenden Offenheit und Sensibilisierung gegenüber den Bedarfen Älterer bei Fachleuten aus Forschung und Entwicklung und im wachsenden Interesse sowie Engagement der älteren Menschen selbst.
So markiert dieser Tag nicht den Abschluss der nunmehr dreijährigen Projektphase „KI für ein gutes Altern“, sondern den Auftakt für kommende Schritte: für Kooperationen, die aus ersten Impulsen konkrete Entwicklungen entstehen lassen; für Projekte, die die Mitgestaltung Älterer auch in hochtechnisierten Bereichen wie der KI dauerhaft verankern; und für eine digitale Zukunft, in der ältere Menschen als selbstverständlicher Teil der Innovationslandschaft sichtbar sind.
Unser Dank gilt allen Teilnehmenden und den Referentinnen und Referenten für den engagierten Austausch, die spannenden Impulse und die lebendige Diskussion sowie dem Deutschen Museum Bonn für diesen einzigartigen Veranstaltungsort.
